Fachgespräch der Grünen Gemeinderatsfraktion zur Corona-App mit Ann Cathrin Riedel
“Das Chaos ist perfekt“, eröffnet Tobias B. Bacherle, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Gemeinderat Sindelfingen, das allwöchentliche Fachgespräch der Fraktion, diesmal zur Corona Tracing-App. Bacherle bezieht sich damit auf die Diskussionen über die verschiedenen Möglichkeiten mithilfe von Handy-Apps die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Um ein wenig Licht ins Dunkeln zu bringen und die Risiken und Möglichkeiten einer Tracing-App zu beleuchten, war die Digital- und Datenschutzexpertin Ann Cathrin Riedel, Bundesvorsitzende des Vereins für liberale Netzpolitik, LOAD e.V., eingeladen.
“Wie wollen wir in einer immer digitaleren Welt zusammenleben und Bürgerrechte verwirklichen?“, auch diese Frage müsste die Gesellschaft bei einer Tracing-App diskutieren, beginnt Ann Cathrin Riedel mit ihrem Input. Die Digitalexpertin erklärt zu Beginn zunächst ausführlich das Ziel und die Funktionsweisen einer Tracing-App: Sie diene der Nachverfolgung von Kontakten mit infizierten Personen. Mittels Bluetooth solle die Abstände von Smartphones zueinander erfassen und ab einem Abstand von unter zwei Meter und einer Kontaktzeit von mindestens 15 Minuten mit der App des Gegenübers Kontaktschlüssel für die Nachverfolgung von Kontakten der Smartphone-Besitzer*innen ausgetauscht werden. Nach einem positiven Testergebnis gäbe die App der infizierten Person allen erfassten Kontakten Bescheid, sich in vorsorgliche Quarantäne zu begeben.
“Selbstverliebte Überwachungshysteriker“ seien sie von konservativen Zeitungen genannt worden, beschreibt Riedel den Alltag ihres Engagement für eine datenschutzkonforme App. “Datenschutz sichert jedoch unsere Bürgerrechte ab und diese sind die Grundlage unserer demokratischen und freien Gesellschaft. Wir sagen auch nicht, dass alle Ideen pauschaler Mist sind, wir machen sehr konstruktive Vorschläge“, führt sie weiter aus. Mit einem Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzleramtsminister Helge Braun (beide CDU) hatte LOAD e.V. sich erfolgreich mit vielen weiteren Organisationen und Datenschützer*innen für die dezentrale Speicherung von der Tracing-App erzeugten Kontaktverbindungen ausgesprochen. In der nun beschlossenen Variante der Speicherung bleibe der anonymisierte Kontaktschlüssel anderer Personen nach einer engen Begegnung auf dem eigenen Smartphone dezentral und nicht zentral auf einem Server gespeichert. Trotzdem meint Riedel: “Wir müssen den Druck weiterhin ausüben, damit die Datenschutzvorgaben eingehalten werden.“
“Wir können uns auf keinen Fall darauf verlassen gesund zu sein, wenn die App uns keine Meldung anzeigt“, kritisiert die Digitalexpertin jene Meinungen, wonach die App das entscheidende Instrument gegen das Virus sei.
“Ca. 70-80% der Bevölkerung müsste die App verwenden, wenn wir über diese Art der Nachverfolgung von Infektionsketten Herdenimmunität erreichen wollen“. Das sei zugleich auch der Anteil in der Bevölkerung mit einem Smartphone und daher kaum zu erreichen. “Es ist sehr unrealistisch, dass alle Menschen, die ein Smartphone besitzen, sich auf einem Schlag eine neue App runterladen. Zudem sind nicht alle Smartphones technisch dazu in der Lage.” “Wir tragen das Handy ja auch nicht immer bei uns und ich finde nicht, dass wir zur Nutzung der App gezwungen werden sollten. Die Bundesregierung darf auch finanzielle Anreize zur Nutzung der App nicht einführen, das würde die Freiwilligkeit nehmen.“, wirft Tobias B. Bacherle ein.
“Eine Tracing-App kann nur ein Baustein eines größeren Maßnahmenpakets gegen die Ausbreitung des Virus sein“, betont Riedel immer wieder. Länder wie Südkorea oder Singapur, die sehr erfolgreich mit der Eindämmung des Virus waren, nutzten zwar Tracing-Apps zum Rückverfolgen von Kontakten, es sei aber unklar, welche Rolle die Apps dabei spielten. Größere Erfahrung dieser asiatischen Regierungen im Umgang mit Pandemien, eine bessere Verfügbarkeit von Schutzmaterial und intensives Testen der Bevölkerung seien mindestens genauso entscheidend für die erfolgreiche Eindämmung gewesen. “Es ist eine falsche Wahrnehmung, dass mit der Einführung der App auf einen Schlag alles wie vorher werden kann”.
Anstatt eine App als Allheilmittel gegen das Virus zu preisen, sei es notwendig eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, was nach der Meldung, Kontakt mit einer infizierten Person gehabt zu haben, geschehen solle. “Es bleiben dann Fragen offen, wie z.B. wer von den Kontaktpersonen in einem solchen Fall Anspruch auf einen Test hätte oder ob es finanzielle Entschädigungen bei vorsorglicher Quarantäne gäbe.”
Zusätzlich sei die psychologische Wirkung bei mehrmaligen Falschmeldungen ein Problem, die vermutlich zu Nachlässigkeit bei der vorsorglichen Quarantäne führe. Prinzipiell gelte es im Umgang auch mit neuen digitalen Maßnahmen als Gesellschaft zur Wahrung der Grund- und Freiheitsrechte kritisch zu bleiben und immer genau zu schauen, wie Digitalisierung im konkreten Fall den Menschen helfen könne.
Am kommenden Montag wird die Fraktion sich der Situation auf den griechischen Inseln auseinandersetzen.
Ab 18.30 Uhr diskutieren die Grünen dazu mit Liska Bernet von der Hilfsorganisation Glocal Roots und Pfarrer Jens Junginger.
Die Zugangsdaten können wie üblich per kurzer Mail an tobias.bacherle@sindelfingen.de angefordert werden und sind auch ab circa 18.00 Uhr auf der Homepage der Sindelfinger Grünen zu finden.
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